Das alte Haus auf den Klippen


      Elaine ignorierte ihre brennenden Oberschenkel und stieg mit unvermindertem Tempo den engen, steilen Küstenpfad hinauf. Oben angekommen bot sich ihr ein atemberaubend schöner Anblick. Soweit das Auge reichte, war die mit Gräsern und Heide bewachsene Steilküste von Norddevon zu sehen. Abgelöst wurden die zum Teil schroff abfallenden Felsen von kleinen Buchten, die man nur bei Ebbe zu Fuß erreichen konnte. Sie fühlte den sanften Wind in ihrem Gesicht und genoss einige Minuten die Aussicht und die Ruhe. Gerade als sie beschloss, zurück zu gehen, sah sie das alte Haus.

 

     Abseits des Pfades stand es einsam auf einer Klippe. Elaine blinzelte mit zusammengekniffenen Augen in das Licht der Nachmittagssonne, um die Konturen des Hauses besser einschätzen zu können. Sie kletterte durch die Heidebüsche ein Stück seitlich am Hang entlang, bis sie fast vor dem Gebäude stand.

 

Hoch und dunkel ragte es nun vor ihr in das Nachmittagslicht. Es war deutlich größer, als es von Weitem dem Anschein hatte und es war alt. Der Kontrast zu den schicken neu gebauten Wohnanlagen des Ferienortes war unübersehbar. 17. vielleicht 18. Jahrhunderts schätze Elaine. Vorsichtig ging sie näher heran. Brombeerbüsche, Geißblatt und Efeu hatten den Zugang zum Haus überwuchert. Rings um das Haus versperrten dichte Hecken aus Berberitze den Blick in den Garten oder auf das Haus.

 

 "Wie bei Dornröschen …", dachte sie und versuchte eine Lücke in den Büschen zu erspähen, um in den Garten zu gelangen. Vergebens schritt sie an der Hecke entlang und als sie schon auf den Pfad zurückkehren wollte, sah sie eine schmale Öffnung zwischen den Blättern schimmern. Gerade so, als hätten die Pflanzen nur darauf gewartet, jemandem Einlass zu gewähren.

  

Elaine hob mit ihren Händen behutsam einige Ranken Geißblatt hoch, um die Lücke zu betrachten. Sie war tatsächlich groß genug, um hindurch schlüpfen zu können. Vorsichtig, um sich nicht an den scharfen Dornen der Berberitze zu verletzten, kletterte sie durch die dichte Hecke hindurch. Der Anblick der sich ihr im Garten bot, war wild und wunderschön zugleich. Auch hier hatten Brombeerranken bereits Teile des Gartens erobert. Doch dazu gesellte sich eine Vielfalt an wilden Rosen, Disteln, Flockenblumen, Lilien, Margeriten, Sommerflieder, uralten Obstbäumen und hüfthohem Gras. Seit Jahren schien niemand hier gewesen zu sein. Die Stille war beeindruckend und wurde nur durch das gleichmäßige Summen einer Vielzahl von Insekten begleitet.

  

Das Haus hob sich mit tiefroten Backsteinen düster, regelrecht kühl, von der sommerlichen Unbeschwertheit des Gartens ab. In der Nähe wieherte ein Pferd. Das Geräusch kam von der anderen Seite des Gartens, hinter dem Haus.

  

"Bin ich am Ende doch nicht die Einzige, die sich für das Haus interessiert?", Elaine bahnte sich vorsichtig ihren Weg durch die Gräser und versuchte dabei, so gut es ging, den dornigen Ranken auszuweichen. Dennoch blieben ihr einige Schrammen von den Brombeeren nicht erspart. Leise fluchend löste sie eine besonders hartnäckige Ranke von ihrem Bein und stand schließlich direkt vor dem Gebäude.

 

Aus der Nähe wirkte das Haus bei Weitem nicht so verfallen, wie noch aus der Ferne. Die Fensterscheiben waren intakt, regelrecht sauber und auch das Dach sah völlig unbeschädigt aus. Direkt an der Hausmauer war das Gras nicht so hoch, so dass sie leicht hindurch schreiten konnte. Kaum hatte sie das Haus umrundet, sah sie auch das Pferd. Es war lose an einem Baumstamm angebunden und trug einen altertümlichen Sattel.

  

"Wer benutzt denn heute noch so etwas?", fragte sie sich und trat näher an das Tier heran, um den Sattel zu betrachten. Es war ein typischer Sportsattel für Gentlemen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Heute wurde so etwas nicht mehr gefertigt, dennoch wirkte er eher neu. Elaine stricht mit ihrer Hand gedankenverloren über das glatte Leder.

  

"Kann ich Ihnen helfen?" Eine tiefe Männerstimme riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken fuhr sie herum. Vor ihr hatte sich ein großer Mann bedrohlich aufgebaut und musterte sie aus beeindruckend grünen Augen unverhohlen feindlich. Die Arme hatte er angespannt vor der Brust verschränkt. Er trug eine altertümliche Jacke, eine dunkle Hose und eines dieser Hemden mit Stehkragen und Halstuch.

  

19. Jahrhundert schätzte Elaine und fragte sich, ob sie geradewegs in eine historische Kostümprobe geraten war. Das Pferd zumindest würde gut dazu passen. Der Mann selbst war kaum älter als 30 Jahre. Seine dunklen Haare waren etwas zu lang und fielen ihm reichlich wirr in seine Stirn. Er war außergewöhnlich blass für die Jahreszeit und um seine Augen lagen dunkle Schatten. "Zu lang im Büro gewesen", dachte sie spöttisch und versuchte in seinem Gesicht abzulesen, ob er tatsächlich gefährlich war.

  

Elaine bemerkte, dass er sie noch immer fragend anstarrte. "Ähm, nein.", stammelte sie daher unbeholfen. Sie deutete auf das Haus: "Ich dachte, es sei unbewohnt und von weitem sah es so verfallen aus." Sie verstummte, als er verärgert seine Augenbrauen nach oben zog.

  

"Verfallen? Gerade erst habe ich neue Fenstergläser einsetzen lassen!", entgegnete er kühl und musterte dabei misstrauisch ihre robusten Wanderstiefel, die sie zu den kurzen Hosen trug. " … und es erklärt auch nicht, warum Sie ohne Einladung fremde Grundstücke betreten.", fügte er etwas weniger aggressiv hinzu.

 

"Ja, nun … es tut mir leid und ich verschwinde dann auch mal besser wieder.", murmelte Elaine und wandte sich zum Gehen, dabei verfluchte sie ihre Idee, einfach in den Garten geklettert zu sein. "Nicht so schnell!", sagte er und packte sie forsch am Arm, "Erst erklären Sie mir, was Sie tatsächlich hier suchen und wer Sie geschickt hat."

  

Elaine sah ihn sprachlos an. Wenn das ein Rollenspiel sein sollte, dann spielte er seinen Part sehr überzeugend. "Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich gedacht habe, dass das Haus leer steht. Ich wollte vor dem Abendessen noch ein Stück gehen und bin dem Coastal Path gefolgt."

 

"Coastal Path?" wiederholte er mit hochgezogenen Augenbrauen, "Was soll das denn sein?" Elaine kam zunehmend zur Überzeugung, dass es sich hier nur um einen Irrtum handeln konnte. Er hielt sie offenbar für einen Mitspieler und sie wollte den Spuk so schnell wie möglich beenden. "Hören Sie," begann Sie daher, "es tut mir leid, wenn ich ihr Spiel gestört habe. Ich gehöre nicht dazu und werde jetzt nach Hause gehen. Es ist auch schon spät."

  

Er schaute noch immer misstrauisch, lockerte jedoch wenigstens den Griff an ihrem Arm. "Ich weiß zwar nicht, von welchem Spiel Sie sprechen. Doch Sie scheinen tatsächlich harmlos zu sein. Für eine Diebin sehen sie auch viel zu auffällig aus.", meinte er nachdenklich und deutete auf ihr knallrotes T-Shirt."

  

Elaine atmete erleichtert auf, als er sie endlich losließ. Sie drehte sich wortlos um und wollte so schnell sie konnte über die Wiese zu dem Loch in der Hecke laufen. Abrupt wurde ihre Bewegung durch eine Brombeerranke gestoppt, die sich um ihren Fuß geschlungen hatte. Unsanft landete sie auf dem Boden und konnte gerade noch verhindern, dass sie der Länge nach auf der Wiese aufschlug.

  

"So ein Mist!", schimpfte sie leise vor sich hin und versuchte ihren Fuß aus dem Gestrüpp zu befreien. "Von wegen nicht verfallen! Das ist total verwildert hier … "

 

"Haben Sie sich weh getan?", ohne dass sie es bemerkt hatte, hatte sich der Mann neben sie gekniet und half ihr vorsichtig, die Brombeeren zu bändigen. "Nein, es geht schon.", brummte sie mürrisch und wischte mit dem Finger einige Blutstropfen, die aus den Rissen quollen, die die Dornen an ihrem Knie hinterlassen hatten. Wortlos reichte er ihr ein Taschentuch. Sie tupfte vorsichtig die kleinen Blutstropfen ab und deutete auf den Garten: "Hier sollten Sie unbedingt etwas Ordnung schaffen, sonst wuchert er komplett zu."

  

"Ich weiß, ich müsste einen Gärtner einstellen, doch den kann ich mir derzeit nicht leisten," murmelte er leise und ergänzte dann, "und Sie sollten nicht in so komischen kurzen Hosen herumlaufen. Man könnte ja meinen, Sie seien ein Mann!"

 

Elaine sah ihn grinsend an und rappelte sich vom Boden auf: "Das meinen Sie jetzt nicht ernst oder? Was sollte ich denn Ihrer Meinung nach sonst tragen, wenn ich zwischen den Heidesträuchern hier wandern oder laufen gehe? Im Übrigen können Sie hier selbst mit einer Heckenschere und einem Spaten schon Wunder bewirken. Die Wiese könnte auch mal wieder einen Rasenmäher vertragen …", zählte sie auf und deutete auf die blühenden Gräser der Wiese.

 

Noch bevor er antworten konnte, fiel ihr Blick auf einen violetten Farbtupfer, der sich vom übrigen grün, gelb und weiß der Wiese abhob. Elaine traute ihren Augen kaum und kniete sich vor eine kleine purpurne Blume: "Wissen Sie was das ist?", fragte sie ungläubig.

  

Verwirrt schaute er zu ihr, dann zur Blume und wieder zurück: "Nein?" Seinem Tonfall entnahm sie, dass er sie nun endgültig für nur wenig zurechnungsfähig hielt.

 "Das ist Centaurium scilloides, ein Tausendgüldenkraut. Es ist äußerst selten. Viele Arten gelten bereits als ausgestorben. Angeblich wachsen einige davon an der Küste Cornwalls. Dieses hier offenbar in Ihrem Garten.", Elaine richtete sich auf und strahlte ihn begeistert an, "Das ist unglaublich! Das ist einzigartig! Das muss ich unbedingt fotografieren und seien Sie froh, dass Sie sich keinen Gärtner leisten können. Der hätte das Centaurium sicherlich einfach um gemäht!"

 

Der Mann sah sie einen Moment lang mit einer Mischung aus Belustigung und Erstaunen an. "Kennen Sie sich mit Pflanzen aus?", fragte er schließlich vorsichtig. "Halbwegs. Ein paar kenne ich schon. Warum?"

  

"Nun, das ist etwas kompliziert. Noch habe ich keinen Kundigen gefunden, dem ich genügend Vertrauen entgegen bringe und der in der Lage war, mir bei meinem Problem zu helfen. Sie hingegen scheinen fremd hier zu sein und noch dazu eine Frau …" Der Mann neigte den Kopf und schien zu überlegen, ob er ihr trauen konnte. Elaine konnte sich nicht vorstellen, worin ein ernsthaftes Problem bestehen konnte, was mit Pflanzen zu tun hatte. Sie erwog einen Moment lang, ob sie einfach gehen sollte. Schließlich wartete sie geduldig ab, während der Mann mit sich rang.

  

Nach einigen Minuten Schweigens, seufzte er vernehmlich und begann leise zu sprechen: "Meine Großmutter väterlicherseits hat mir vor kurzem dieses Haus hinterlassen. Es vererbt sich eigentlich immer auf die männlichen Nachkommen. Leider war meine Großmutter in den letzten Jahren ihres Lebens etwas verwirrt und hat aus Angst vor Dieben den Hauptteil ihres beträchtlichen Vermögens irgendwo hier versteckt." Er zeigte mit ausladender Geste auf das Haus und den Garten.

 

 

Elaine überlegte, warum man einen Teil seines Vermögens hier verstecken sollte. Wozu gab es Schweizer Nummernkonten oder Bankschließfächer? Doch sie schwieg, weil sie ihn nicht unterbrechen wollte. Der Mann seufzte wieder und fuhr fort: "Dazu hat sie mir ein äußerst seltsames Rätsel hinterlassen. Man kann es offenbar nur lösen, wenn man die darin vorkommenden Pflanzen erkennt. Das jedenfalls denke ich." Er verstummte und schaute Elaine abwartend an.

  

Sie zuckte mit den Schulter und meinte: "Ich kann es mir zumindest einmal ansehen. Vielleicht habe ich eine Ahnung, worum es darin geht. Wenn es denn überhaupt ein Rätsel ist! Vielleicht hat ja ihre Großmutter ihr Geld einfach im Internet verspielt, am Aktienmarkt verloren oder einem Tierheim geschenkt und ihr war es dann zu peinlich, das zuzugeben?"

 

Mit gerunzelter Stirn schaute er sie an: "Noch immer habe ich wirklich keine Ahnung, wovon sie sprechen. Mit Aktien handelt meine Familie nicht und schon gar nicht mit Netzen. Wir haben eine lange Tradition in der der Landwirtschaft. Seit Generationen verpachten wir unsere Ländereien an die Bauern. Mit Fischerei habe ich mich noch nie beschäftigt."

  

Elaine kniff die Augen zusammen und überlegte, ob er ihr richtig zugehört hatte. Offenbar redeten sie grandios aneinander vorbei. Sie beschloss daher, das Thema zunächst nicht weiter zu vertiefen. "Zeigen Sie mir doch mal das 'Rätsel' ihrer Großmutter.", forderte Sie ihn daher stattdessen auf.

 

Er gab sich einen Ruck, trat ein Stück zur Seite und deutete auf die große Eichentür am Haus: "Bitte folgen Sie mir.", forderte er sie auf, "Lassen Sie uns das Thema im Salon weiter besprechen." Er dreht sich um und ging mit ausladenden Schritten auf das Haus zu. Elaine zögerte einen kurzen Moment, dann folgte sie ihm langsam. Was tue ich hier nur, dachte sie, als sie kopfschüttelnd die kurze Treppe zum Haus hinauf schritt.

  

In der kleinen Eingangshalle war es still und angenehm kühl. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie eine Vielzahl von Gemälden erkennen, die an den Wänden angebracht waren. Jagdszenen, Portraits, Landschaften. Dunkle Möbel säumten den Gang und eine massive Eichentreppe führte in das obere Stockwerk. Der Mann war an einer Tür auf der rechten Seite stehen geblieben und wartete geduldig, bis sie auf ihn zuging.

  

Sie folgte ihm in den Raum, den er als Salon angekündigt hatte. Spätes Nachmittagslicht strömte durch große Fenster das Zimmer und tauchte ihn in ein warmes Licht. An der Seite war ein Kamin aus Marmor in die Wand eingelassen, davor eine gemütliche Sitzecke aus Sesseln mit Blumenmustern aufgebaut. Auch die Tapete war über und über mit Blumen bedruckt. Vor dem Fenster stand ein großer, blank polierter Tisch, auf dem sich Papiere stapelten. In der Mitte des Raumes waren verschiedene Polstermöbel einladend um einen kleinen Tisch gestellt. Gleich neben dem Eingang stand ein Flügel. Elaine war beeindruckt. Der ganze Raum strahlte die Erhabenheit englischer Landhäuser aus, von denen sie schon viele angeschaut hatte, nur dass die Farben hier deutlich brillanter und kräftiger wirkten.

  

"Das ist ein schöner Raum.", sagte sie und betrachtete interessiert einige Portraits über dem Kamin.

 

"Das mag sein, " bestätigte er gedankenverloren und blätterte suchend durch die Papierstapel auf dem Tisch, "doch man muss sich solche Schönheit auch leisten können. Wenn es mir nicht gelingt, das Vermögen meiner Großmutter zu finden, werde ich das Haus verkaufen und auch meine Verlobung lösen müssen."

 

Elaine schaute ihn fragend an. Er schien es zu nächst nicht zu bemerken. Doch als sie schwieg, hob er den Kopf und betrachtete sie gedankenverloren. Er hat die grünsten Augen, die ich je gesehen habe, dachte sie versonnen. Das Licht der hereinfallenden Sonne ließ sie regelrecht leuchten.

  

Er räusperte sich schließlich vernehmlich: "Mein jüngerer Bruder hat im letzten Jahr enorme Spielschulden gemacht. Er hat es mir sehr lang verschweigen können. Doch seine Gläubiger haben ihn jetzt unter Druck gesetzt, die Schulden endlich zu begleichen." Er machte eine kurze Pause und ergänzte dann leise, fast resigniert: "Eine unvorstellbar hohe Summe. Zusammen mit den Ernteausfällen durch den anhaltenden Regen im letzten Jahr, hat mich das an den Rand des finanziellen Ruins getrieben."

  

Mit einem Packen Papier setzte er sich auf einen hübschen Stuhl neben dem Tisch und blickte sie abwartend an. Sollte ich ihn bedauern oder verurteilen, seinen Bruder nicht besser kontrolliert zu haben, überlegte Elaine einen Moment. Dann wurde ihr klar, dass er nichts dergleichen erwartete, sondern nur, dass sie einfach seine Situation akzeptierte.

  

"Ok," sagte sie daher schlicht, "deshalb benötigen Sie das Geld ihrer Großmutter. Sie könnten auch einiges von dem Inventar hier verkaufen." Sie deutete auf den Stuhl: "Diesen Stuhl hier zum Bespiel. Er ist für einen Stuhl seines Alters sehr gut erhalten und würde auf einer Fachauktion für historisches Mobiliar sicherlich um die zwei- bis dreihundert Pfund bringen oder den Tisch."

 

Bestürzt schaute er sie an: "Der Stuhl ist noch keine zwei Jahre alt. Den verkaufe ich bestimmt nicht! Außerdem dürfte er kaum mehr als drei oder vier Pfund wert sein. Jeder der mehr bietet, ist nicht bei Sinnen!"

  

Elaine zog zweifelnd die Augenbrauen nach oben. Der Stuhl sah sehr recht teuer aus und auch nicht wie einer dieser Stühle, die nur im alten Design hergestellt wurden. Selbst wenn er im historischen Stil nachgebaut war, war er definitiv mehr als nur vier Pfund wert. Doch sie gestand sich ein, dass sie von Möbeln keine wirkliche Ahnung hatte und sie wohl seinem Urteil vertrauen musste. "Dann zeigen Sie mir mal das Rätsel", forderte sie ihn auf.

  

Noch immer blätterte er in dem Papierstapel, aus dem er nach einer Weile einen Briefumschlag mit gebrochenem Siegel hervorzog und auf den Tisch legte. Er erhob sich und ging zu einer Kommode an der Seite. Dort goss er sich aus einer Kristallkaraffe eine rötlich-braune Flüssigkeit in ein Glas. "Möchten Sie auch etwas trinken? Einen Sherry vielleicht, einen Cognac oder ein Glas Wein?"

 

"Nein danke, keinen Alkohol, doch ich hätte gern ein Glas Wasser."

 

"Wasser?", wiederholte er etwas überrascht. "Wasser.", betätigte Elaine und fragte sich, was daran so seltsam sein sollte. "Doch wenn es Schwierigkeiten macht, dann geht es auch ohne."

 

Er dreht sich zu ihr herum: "Der Brunnen wird erst nächste Woche gereinigt, deshalb kann ich Ihnen nur Wein anbieten. Wie heißen Sie eigentlich?"

 "Elaine. Die meisten Menschen nennen mich aber kurz Elli."

 "Elaine ist ein wirklich schöner Name, ich werde ihn nicht abkürzen. Ich bin Anthony Jonathan Edward Earl of Tentesbury. Doch kommen Sie, schauen Sie sich den Brief meiner Großmutter an."

  

Er ging zum Tisch zurück und entnahm dem Umschlag ein gelbliches Blatt Papier, das er etwa auf DIN A4-Größe entfaltet und ihr überreichte. Elaine nahm das Papier und begann den Text zu lesen, der in einer zierlichen Damenhandschrift verfasst war.

  

"To solve my final mystery,

 Don´t use the words even literally.

It´s quite more than a simple rhyme,

Like there is in the Garden no Thyme."

  

Elaine blickte kurz auf und sah, dass Anthony sie gespannt beobachtete. Er sieht erschöpft aus, dachte sie. Dann las sie weiter:

  

"Herbs and Flowers are useful sometimes, 

Effective for different medical kinds. 

Find them, collect them and their range doesn't matter, 

But in the house they are all very close together!

 

For smooth skin, this flower is typical and very old, 

Like as the knowingly people you told. 

The second is yellow and belongs to a sort, 

Used on trembling and flattering it is surely no tort.

 

Is there an evil enemy you so dearly hate, 

A few fruits and usually you will need a spade. 

This flower doesn´t grow in the wood, 

Besides some monk used the Queen for really good.

 

Too much will cause a nausea not to defend, 

And cardiac arrest is sealing the end. 

At least this plant is kind of new and privy, 

Poisonous but not if you properly divvy.

 

It´s effects are really enormous, 

For all cramps and spasms very famous."

 

Sie verstummte und schaute einen Moment lang ratlos auf das Papier. "Das ist alles?", fragte sie schließlich.

 

"Ja, leider und glauben Sie mir, auch ich habe mir schon reichlich den Kopf darüber zerbrochen, was sie wohl damit gemeint haben könnte. Ich denke, sie beschreibt irgendwelche Heilpflanzen. Doch ich habe keine Ahnung welche."

 

"Naja,", murmelte Elaine und ergänzte schließlich deutlicher, "sie schien schon davon auszugehen, dass sie bekannt sind. Gibt es hier im Haus so etwas wie eine Hausapotheke oder einen Medizinschrank?"

 

"Nicht, dass ich wüsste. Vielleicht in ihrem alten Schlafzimmer?", überlegte Anthony kurz, "Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Zimmer – vielleicht fällt Ihnen ja dort etwas auf."

  

Er erhob sich und ging aus dem Raum hinaus. Elaine folgte ihm nachdenklich. Er ist ein wirklich schöner Mann, dachte sie, als er sich mit der rechten Hand durch das Haar fuhr und seine Haare noch mehr durcheinander brachte, als sie es ohnehin schon waren. Schön, aber eindeutig seltsam. Anthony stieg mit großen Schritten die Treppe hinauf und wartete oben, bis auch sie den Treppenabsatz erreicht hatte.

 

"Hier entlang.", meinte er und deutete auf eine Tür am Ende eines kurzen dunklen Ganges. Auch hier hingen große, aufwendig gerahmte Bilder. Elaine ging gedankenlos daran vorbei und blieb dann vor der Tür stehen. Keinesfalls würde sie als erstes den Raum betreten. Sie kam sich ohnehin schon wie ein Eindringling vor.

  

Er bemerkte ihr Zögern und schmunzelte leicht: "Keine Sorge, hier stören Sie nun wirklich niemanden mehr. Außer mir ist niemand in diesem Haus."

 

Elaine nickte abwesend und starrte fasziniert auf seine Lippen. Unglaublich, wie das kurze Lächeln sein Gesicht verändert hatte! Eine Bewegung holte sie aus ihren Gedanken zurück.

 

Er hatte die Tür aufgestoßen und bedeutete ihr, hinein zu gehen. Die nun langsam sinkende Abendsonne fiel weich und warm auch in diesen Raum. In der Mitte stand ein großes Himmelbett, sorgfältig mit einem Kilt voller Blumenmuster abgedeckt. Eine große Kommode mit aufwendigen Schnitzereien befand sich an der Seite. Am Fußende stand ein großer, dunkler Kleiderschrank. "Schön." meinte Elaine.

  

"Hm, sicherlich." bestätigte Anthony, "die Kommode hat sie von einer ihrer Reisen mitgebracht. Sie ist aus keinem mir bekannten Holz gefertigt. Sie dürfen gern überall hinein schauen. Vielleicht findet sich ja irgendwo ein hilfreicher Hinweis."

 

Elaine zog der Reihe nach die Schubladen der Kommode auf. Doch außer Kleidungsstücken, die allesamt sehr, sehr alt zu sein schienen, fand sich kein Hinweis auf eine Hausapotheke.

  

"Wo um alles in der Welt hat Ihre Großmutter, diese Unterwäsche her?", fragte sie beeindruckt, als sie ein langes baumwollenes Unterhemd hervor zog, "so etwas trägt man doch seit 200 Jahren nicht mehr!"

 

Er lachte: "Über die Unterwäsche meiner Großmutter habe ich mir wirklich noch keine Gedanken gemacht. Doch ich weiß, dass sie immer viel Wert auf die aktuelle Mode gelegt hat. Offenbar galt das wohl nicht für ihre Unterwäsche."

 

"Hey, Sie können ja lachen!," stellte sie nun ebenfalls schmunzelnd fest.

 

Sofort wurde er wieder ernst und Elaine bedauerte ein wenig, dass sie ihn darauf hingewiesen hatte. Sie mochte es, wenn er sein Gesicht in nicht so sorgenvolle Falten legte.

 

"Lassen Sie uns den Schrank unter die Lupe nehmen.", sagte sie dann, um das Schweigen zu unterbrechen. Er hob offenbar angesichts ihrer Wortwahl kurz die Augenbrauen nach oben und ging wortlos zum Schrank hinüber.

  

Gemeinsam untersuchten schließlich das Bett und den Kleiderschrank. Elaine war von der großen Auswahl altertümlicher Kleider schwer beeindruckt. Diese Frau musste eine besondere Vorliebe für das 19. Jahrhundert gehabt haben, darauf deutete nicht nur die Kleidung, sondern auch das Mobiliar des Hauses hin. Sie wandte sich zu Anthony um, der hinter ihr stand und die oberen Fächer des Schrankes begutachtete: "Wie hieß Ihre Großmutter eigentlich?"

 

"Lady Elizabeth Catherine Lydia of Tentesbury", er ließ seine Arme sinken und schaute sie verklärt an, "Sie war großartig. Eine kluge und lustige Frau … nur zuletzt etwas … 'verwirrt'. Als Kind habe ich sie vergöttert! Sie konnte kochen und wunderbar backen. Ihre Tees und Partys waren ebenso berühmt wie ihre Vorliebe für Blumenmuster."

  

Er schwieg und schien einen Moment lang in seiner Erinnerung zu versinken, dann begann er erneut, den Inhalt der Fächer zu durchsuchen.

 

Elaine dachte einen Moment lang an ihre Großmutter, die Zeit ihres Lebens durch und durch eine pragmatische Städterin gewesen war. Blumenmuster hätte sie noch nicht einmal auf einer ihrer Tassen geduldet. Blumenmuster! Elaine hielt kurz inne. Das ist es, dachte sie. "Blumenmuster!", wiederholte sie daher laut, "Blumenmuster! Ja, dass ich darauf nicht gleich gekommen bin!"

  

Anthony schaute sie verständnislos an: "Blumenmuster?"

 

"Ja! Wir 'übersetzen' die Heilpflanzen und suchen dann hier im Haus das passende Muster. Dort ist dann vermutlich auch das Vermögen versteckt."

 

Er zog zweifelnd die Augenbrauen nach oben: "Das Haus ist ein Gesamtblumenmuster.", merkte er kritisch an.

 

"Ja. Doch genau das sagt der erste Teil des Textes. Dass wir die Pflanzen erraten und dann schauen müssen, wo sie zusammen zu sehen sind. Keine Apotheke, sondern ein Bilderrätsel. Kommen Sie, wir gehen in den Salon zurück und versuchen die Blumen zu identifizieren!"

  

Elaine stürmte aus dem Zimmer und die Treppe hinab. Anthony folgte ihr wenig überzeugt. Als er im Salon ankam, fand er Elaine schon über das Rätsel gebeugt:

 

"Sie schreibt, dass es mehr als ein Reim ist und es im Garten keinen Thymian gibt. Das wird vermutlich auch so ein. Damit ist es ein Hinweis!" Elaine strahlte ihn begeistert an und überlegte dann weiter, "Interessant ist daher, dass hier Thymian als einziges Kraut mit Namen steht, sonst keines. Und es reimt sich auf die vorherige Zeile. Wenn das Gedicht also 'mehr' als ein Reim ist, dann findet man die Blumen wohl, wenn man den Reim und die angegebenen Eigenschaften verwendet."

  

Elaine bemerkte, dass er noch immer nicht wirklich überzeugt aussah. Doch ein wenig begann er offenbar zu verstehen, worauf sie hinaus wollte. "Dann müssen wir Pflanzen finden, die sich auf Teile der Verse reimen?", fragte er skeptisch nach.

 

"Genau!", rief sie aus und tippte auf den ersten Reim, der sich auf eine Pflanze bezog, "der hier ist wirklich einfach: 'For smooth skin, this flower is typical and very old, like as the knowingly people you told.' Ich kenne da nur eine Blume, die sich auf 'told' und 'old' reimt und zur Hautpflege verwendet wird: Marigold. Die Ringelblume!"

  

"In Ordnung. Das verstehe ich, doch ich fürchte, Ringelblumen gibt es hier im Haus überall – sogar an den Möbeln."

 

"Eben, dafür brauchen wir jetzt noch die anderen Pflanzen.", verkündete Elaine motiviert und begann die nächsten Zeilen zu lesen: "'The second is yellow and belongs to a sort, used on trembling and flattering it is surely no tort.'"

 

Sie runzelte kurz die Stirn, als sie überlegte: "St. Johns Wort", sagte sie nach wenigen Sekunden nickend. "Johanniskraut, blüht gelb und es hilft bei Nervosität und Unruhe. Ich habe es auch im Garten gesehen."

  

Jetzt hatte sich Anthony interessiert vorgebeugt und las bereits den folgenden Vers: "'Is there an evil enemy you so dearly hate, a few fruits and usually you will need a spade."', er schaute sie an, "Heißt das, damit kann man jemanden vergiften?"

 

"So kann man es sehen,", schmunzelte Elaine, "offenbar war Ihre Großmutter, die 'Lady', bei Weitem nicht so harmlos in ihrer Gedankenwelt, wie Sie es als braver Enkel gern gesehen hätten. Mir fallen einige Pflanzen ein, die äußerst giftige Früchte haben. Aber …" Weiter kam Elaine nicht, weil Anthony sie unterbrach und ihren Satz vervollständigte:

 

"… aber nur eine reimt sich auf 'hate' und 'spade': Deadly Nightshade! Die Tollkirsche. Auch sie wächst hier im Garten." Er schüttelte kurz den Kopf und ergänzte: "'Spade', wie morbide!"

  

Elaine lachte. Anthony schien nun endlich überzeugt zu sein, dass sie auf der richtigen Spur waren: "Das ist toll Elaine. Darauf wäre ich nie gekommen!" Er hatte sich aufgerichtet und lächelte sie an. Elaine versank einen Moment in seinen grünen Augen und riss sich dann aber zusammen. Er hat eine Verlobte, dachte sie ein wenig eifersüchtig, und konzentrierte sich wieder auf das Papier.

  

"Schauen wir, was als nächstes kommt. Bisher war es ja wirklich lösbar!", stellte sie fest und las "' This flower doesn´t grow in the wood, besides some monk used the Queen for really good. Too much will cause a nausea not to defend, and cardiac arrest is sealing the end.'"

 

Sie dachte einen Moment lang nach. Dann stieß sie Anthony mit dem Ellenbogen in die Seite, dieser schaute sie überrascht an. "Ihre Großmutter war ja tatsächlich kein Kind von Traurigkeit! Mit Giften scheint sie sich auf jeden Fall auszukennen!", bemerkte sie und ergänzte grinsend, "gab es eigentlich in Ihrer Familie jemals seltsame Todesfälle, als sie noch lebte, zum Beispiel 'Herzstillstand'"

  

Anthony bedachte sie mit einem wenig deutbaren Blick, der deutlich zum Ausdruck brachte, was er von ihrer Anmerkung hielt. Elaine seufzte: "Nun kommen Sie schon, seien sie nicht so humorlos. Das war ein Witz." Als Antwort brummte er versöhnlich und meinte dann: "Diesen Reim verstehe ich überhaupt nicht. Welche Queen? Was will sie mit der Queen?"

  

Elaine konnte angesichts seiner Ratlosigkeit ihre Erheiterung kaum unterdrücken. "Sie meint doch nicht DIE Queen, sondern eine Pflanze.", erklärte sie und fuhr fort, "Die Königin der Gifte sozusagen. Wenn man sie klug anwendet, ist sie eine sehr, sehr wirksame Arzneipflanze. Zu hoch dosiert, führt sie zu Raserei, panischen Zuständen und schließlich zu Atemlähmung und Herzstillstand. Der Hinweis mit dem Mönch ist auch nicht zufällig und sie wächst gern in Bergregionen: Monkshood. Auch Eisenhut oder der Blaue Sturmhut genannt. Mit nur einer Pflanze kann man eine ganze Armee auslöschen!"

  

"Ich habe kein Vorstellung, wie diese Blume aussieht.", merkte er an.

 

"Leider bin ich im Zeichnen nicht wirklich gut. Sie ist blau, die Blüten sind ein wenig wie beim Fingerhut, dem Foxglove, geformt und die Blätter wie beim Rittersporn. Gibt es hier kein Buch über Pflanzen? Oder noch besser: Haben Sie einen Internetanschluss, dann kann ich Ihnen im Netz ein paar Bilder raussuchen?", Elaine schaute ihn abwartend an.

 

"Ich habe keine Ahnung, was Sie mit diesem Netz meinen.", stellte er fest, "So etwas gibt es hier nicht. Doch wir haben Bücher. Vielleicht findet sich darin ein Bild oder eine Zeichnung."

  

Elaine verfolgte ihn mit ihrem Blick, als er zu dem riesigen Bücherregal hinüber ging und aufmerksam die Buchtitel überflog. Ein seltsamer Mann, dachte sie erneut. Er scheint in dieser Welt hier mit Leib und Seele zu leben. Doch richtig glücklich wirkt er nicht. Er drehte sich zu ihr herum und seine grünen Augen schauten sie fragend an: "Alles in Ordnung? Sie sehen so verloren aus?" Sie lächelte und schüttelte den Kopf: "Nein, alles in Ordnung. Suchen Sie ein Buch, ich versuche mich derweil am nächsten Vers."

  

'At least this plant is kind of new and privy, poisonous but not if you properly divvy. It´s effects are really enormous, for all cramps and spasms very famous.' las Elaine in Gedanken.

 

Heilpflanzen, die bei Krämpfen halfen, gab es Duzende, überlegte sie. Doch warum hatte Lady Elizabeth ein sehr ungewöhnliches Wort für 'geheim' gewählt. 'Privy' war nicht gerade gebräuchlich. Wie immer, wenn sie nachdachte, lief sie in schnellen Schritten im Raum umher und prallte schließlich an Anthony ab, der ihr stolz ein Buch über Giftpflanzen präsentierte.

  

"Hier finden sich ganze Sammlungen über Heilpflanzen." Er deutete auf das Bücherregal hinter sich: "Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sich meine Großmutter derart dafür interessiert hat." fügte er fast entschuldigend hinzu.

 

"Tja, oftmals kennen wir selbst uns sehr nahe stehende Menschen nicht wirklich oder Menschen, die wir lieben oder die uns wichtig sind."

 

Er schaute sie überrascht und einen Moment lang schweigend an: "Wie wahr. Wie blind wir manchmal sind!"

 

"Es ist Poison Ivy.", platzte Elaine heraus.

 

"Giftiger Efeu? Was soll das denn sein?", fragend schaute er sie an.

 

"Nein, Efeu heißt er nur, weil rankt und seine Blätter ein wenig so aussehen. Es handelt sich dabei um Giftsumach, Rhus toxicodendron. Eigentlich gab es ihn ursprünglich nur in Nordamerika. Er wurde dann jedoch nach Europa eingeschleppt. Auf jeden Fall kann man ausschließen, dass er hier im Garten wächst. Hier ist es viel zu rau und zu kalt."

 

"Dann müssen wir im Haus suchen?"

 

"Ich denke schon. Es steht so auch im Reim 'Im Haus sind sie alle eng beieinander.' Also müssen wir hier etwas finden, auf dem Tollkirsche, Giftsumach, Ringelblume, Sturmhut und Johanniskraut gemeinsam zu sehen sind."

 

"Das kann ja überall sein!", rief er aus und begann im Buch nach zunächst nach Giftsumach und später nach Sturmhut zu suchen.

 

"Versuchen Sie es unter Aconitum Napellus.", schlug Elaine vor, als er keinen Eintrag für Sturmhut fand. Er blätterte eine Weile im Buch, blieb schließlich auf einer Seite hängen und betrachtete die Abbildungen dort: "Woher wissen Sie das eigentlich alles?"

 

"Ich habe mich viel mit dem Thema auseinander gesetzt. So als Hobby und Sie müssen zugeben, dass es spannend ist." Er nickte und tippte dann auf eine hübsche blaue Blüte: "Ich fürchte, dass ich diese Blume wieder hier noch anderswo je gesehen habe."

  

"Seien Sie froh! Sie hätten sie ja auch im Essen haben können!" neckte ihn Elaine und tippte auf seinen Handrücken. Er zuckte kurz zusammen.

 

Einige Sekunden lang schaute er sie zweifelnd an: "An Ihren ungewöhnlichen Humor, sofern es jetzt welcher war, muss ich mich wirklich erst gewöhnen und auch daran, dass sie mich ständig schubsen oder mit ihren Fingern berühren."

 

Elaine lachte kurz auf: "Sie sind wirklich eigenartig. Wissen Sie das?"

 

Er grinste: "Na und Sie erst in ihrem komischen roten Jäckchen, den seltsamen Schuhen und den viel zu kurzen Hosen."

 

Sie stemmt ihre Hände in die Seiten: "Was bitte gibt es denn an meinen Hosen denn auszusetzen?"

 

"Sie sind viel zu kurz. Man sieht ihre Beine.", stellte er fest und starrte auf ihre Knie, "und sie haben auch reichlich Sommerbräune. Das heißt, sie laufen öfter so herum!" Noch immer löste er seinen Blick nicht von ihren Beinen.

  

Elaine beschloss, dass diese absurde Diskussion sie nicht weiter brachte. Daher nahm sie ihren Finger, legte ihn unter sein Kinn und hob dieses nach oben, so dass er sie ansehen musste. Kaum hatten sich ihre Blicke gefunden, packte er urplötzlich ihr Handgelenk. Erschrocken schnappte Elaine nach Luft.

 

Seine Augen nahmen ein dunkles Grün an, als er sie mit unergründlichem Blick betrachtete: "Hat Ihnen denn niemand beigebracht, dass man fremde Männer nicht berührt. Insbesondere nicht ohne Aufforderung?"

 

"Aufforderung?", wiederholte Elaine ungläubig und befreite sich aus seinem Griff, "Sie leben ja wirklich in der Vergangenheit. Kommen Sie, suchen wir die Pflanzen!" Aufmunternd klopfte sie ihm auf die Schulter und stürmte aus dem Zimmer. Kopfschüttelnd folgte er ihr.

  

* * *

 Nach ungefähr zwei Stunden hatten sie alle Tapeten, Teller, Tassen und Bilder nach der fraglichen Pflanzensammlung abgesucht. Ohne Erfolg. Immer waren nur einige wenige zu sehen gewesen, niemals alle gleichzeitig. Auf einem Bild hatte sogar nur der Giftsumach gefehlt. Eigentlich hatten sie genau diese Pflanze auf keinem der Bilder entdecken können. Blauer Sturmhut hingegen, war zu Anthonys Überraschung, ziemlich häufig auf Tapeten, Decken, Kissen oder Gemälden zu sehen gewesen.

 

"Es muss doch irgendwo ein Bild geben, auf dem alle zu sehen sind.", müde ließ sich Anthony auf die Couch im Salon sinken.

 

Elaine ließ sich seufzend neben ihn fallen, was ihr ein kritisches Stirnrunzeln einbrachte. Vermutlich wieder etwas, was mir jemand hätte beibringen sollen, dachte sie spöttisch und ich hätte jetzt wirklich gern ein Wasser. Doch sie hatte die Küche gesehen, fließendes Wasser gab es dort tatsächlich eben so wenig wie Wasserflaschen.

  

Mittlerweile war die Sonne schon recht weit gesunken. Elaine schaute auf ihre Uhr. Fast acht Uhr. Sie musste auch bald zurück, sonst würde sich ihre Freundin sicherlich Sorgen machen. "Wir können ja morgen noch einmal in Ruhe suchen." schlug sie daher vor, "wenn es wieder richtig hell ist. Hoffen wir nur, dass sie das Bild nicht auch noch versteckt oder gar verkauft hat!"

 

Er schaute sie an und nickte schließlich. "Das wäre entsetzlich. Doch vermutlich haben Sie Recht: Suchen wir morgen weiter.", er zögerte einen Moment unsicher, "wenn Sie mich dabei noch einmal unterstützen wollen?"

 

Elaine nickte. "Das ist kein Problem. Dann bringe ich mir auch eine Flasche mit Wasser mit, so halte ich länger durch."

 

"Oh sicher. Kann ich Ihnen jetzt noch etwas anbieten. Ich habe Wein, verschiedenes Obst und auch noch etwas Biskuit."

 

"Ein Wein wäre gut. Danke." Elaine streckte behaglich ihre langen Beine aus und stellte belustigt fest, dass er auch das offenbar ungewöhnlich fand. Anthony erhob sich und entnahm einem kleinen Schrank zwei Gläser, die er mit Wein aus einer hübschen Karaffe füllte. Er kam zurück, blieb vor ihr stehen und reichte ihr eines der Gläser.

  

"Also noch einmal, vielen Dank für ihre Hilfe. Ich denke, ich kenne niemanden, der das Rätsel so schnell gelöst hätte und vermutlich wäre selbst meine Großmutter recht erstaunt gewesen."

 

Sie blickte ihn in seine wunderbar grünen Augen und hob schließlich das Glas: "Ja, auf Ihre Großmutter und auf einen baldigen Sucherfolg."

 

Er starrte eine Weile fast versonnen zurück und flüsterte dann kaum hörbar: "Vielleicht sollte ich mir einen solchen Erfolg gar nicht so schnell wünschen."

 

Elaine glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, grinste ihn an und rief entrüstet: "Anthony, Sie werden doch wohl nicht kühn werden in Ihren sonst so braven Äußerungen!"

  

Er zwinkerte ihr zu: "Nun, junge Dame, ein wenig habe ich auch von Ihnen schon gelernt." Er stieß sanft mit ihrem Glas an und nahm dann einen tiefen Schluck, ohne sie aus den Augen zu lassen. Der helle Ton der aneinander stoßenden Gläser brachte sie in die Realität zurück: "Sie sind verlobt, solche Anspielungen sollten Sie daher besser bleiben lassen."

 

"Wohl wahr. Doch wenn ich das Vermögen meiner Großmutter nicht finde, muss ich die Verlobung ohnehin lösen und der Earl von Tendesbury wird sich in der Armee verdingen müssen, so wie das mein unnützer Bruder längst hätte tun sollen." Eine gewisse Verbitterung schwang in seinen ironischen Worten mit.

 

"Warum müssen Sie ihre Verlobung lösen? Nur weil sie nicht mehr vermögend sind? Außerdem gibt es sicherlich bessere Möglichkeiten, Geld zu verdienen, als der Armee beizutreten. Was haben Sie studiert?" Elaine schaute ihn fragend an und trank den Rest ihres Weines.

  

"Ich habe die Rechtwissenschaften studiert. Doch eine Vermählung mit Lady Bradshaw ist ohne Vermögen nicht denkbar. Das kann ich ihr und mir nicht zumuten. Ich werde auch unser Familienanwesen in Barnstable nicht halten können." er deutete auf ihr leeres Glas: "Möchten Sie noch Wein, etwas ist noch da?"

 

"Gern", seufzte Elaine und dachte einen Moment lang über Anstand und Ehre nach, während er die Karaffe holte und sich dann neben sie setzte. So nah, dass sich ihre Beine schon fast unzüchtig berührten. Sie schmunzelte vorsichtig und als hätte er ihre Gedanken erraten, bemerkte er fast beiläufig: "Das ist ungewöhnlich, so nah bei einer Dame zu sitzen. Doch es gefällt mir außerordentlich gut und außerdem riechen Sie gut, wenn ich das feststellen darf."

  

Elaine schaute ihn angesichts dieser Bemerkung überrascht an. Sie wollte gerade etwas entgegnen, als ihr Blick auf die Karaffe fiel, die er noch immer in seinen Händen hielt. "Du meine Güte!", rief sie aus und deutete auf die Karaffe, "Sehen Sie das?"

 

Anthony folgte dem Hinweis ihrer Hand: "Was? Das Glas?"

 

"Nein! DAS ist Poison Ivy! Die Gravuren auf der Karaffe stellen Giftsumach dar und zwar, soweit wir das wissen, den einzigen hier im Haus! Er umrankt das gesamte Gefäß."

  

Er betrachtete die in das Glas geformten Blätter und nickte schließlich. "Richtig, wie auf der Abbildung im Buch. Doch was hilft uns das jetzt." Ratlos hielt er die Karaffe in den Händen, dann hellte sich sein Gesicht auf.

 

"Natürlich! Ich habe nach dem Tod meiner Großmutter den Standort einiger Dinge hier verändert. Eher ohne Absicht, doch jetzt gewinnt es an Bedeutung! Mein Bruder wollte einige der Bilder verkaufen. Ich habe ihn dabei ertappt, wie er sie aus dem Haus tragen wollte. Ich habe ihm gesagt, dass das nicht möglich sei und die Bilder zurück ins Haus gebracht.

  

Dabei habe ich sie getauscht, weil ich der Meinung war, die Jagdszene hier," er unterbrach kurz und deutete auf ein großes Bild gegenüber, das ein heitere Jagdgesellschaft zeigte, "passt besser in den Salon als das Stillleben mit Früchten und Blumen …"

 

Elaine erhob sich: "Sie meinen, das Bild mit den Sonnenblumen und Äpfeln vom oberen Gang hing eigentlich hier neben der Tür?"

 

"Genau, das Bild mit den Sonnenblumen und Äpfeln UND dem Johanniskraut, dem Sturmhut, den Ringelblumen und den Tollkirschenzweigen hing hier über der kleinen Kommode MIT der mit Giftsumach verzierten Karaffe." Anthony sah sie herausfordernd an, dann sprangen beide gleichzeitig von der Couch auf und liefen zielstrebig zu dem kleinen Tisch hinüber.

 

 "Die Kommode?" fragte Elaine.

 "Die Kommode. Zuerst." bestätigte Anthony.

 Gemeinsam untersuchten sie jeden Zentimeter des kleinen Schränkchens. Sie fanden zwar ein verstecktes Fach, in der einige tote Spinnen und Insekten lagen, doch das Vermögen oder einen Hinweis darauf nicht.

  

"Vielleicht hinter dem Bild?", schlug Elaine vor. Behutsam hoben Sie das Bild von der Wand herunter und untersuchten die Tapete und die Wand. Auch hier war kein Versteck verborgen.

 

"Ist vielleicht noch einmal etwas anderes verändert worden?", fragte Elaine.

 

Anthony schüttelte den Kopf: "Nein, nicht dass ich das wüsste und von mir auch gar nicht."

 

Sie überlegte: "Wir haben einfach nur etwas übersehen, nur was? Wo haben wir noch nicht geschaut? Wo würde ich ein 'Vermögen' verstecken?" Das Wort "Vermögen" formulierte sie betont skeptisch und als er nicht darauf reagierte, fragte sie nach: "Worin besteht eigentlich das 'Vermögen' Ihrer Großmutter?

 

Verständnislos betrachtete er sie: "Geld in erster Linie. Die Pachteinnahmen der letzten Jahre. Meine Großmutter war bei allem Reichtum eine sehr sparsame Dame. Auch Schmuck und Goldmünzen müssen dabei sein."

  

Elaine war überrascht: "Also der klassische Schatz? So mit Truhe und Geschmeide? Wie im Piratenfilm? So etwas kann doch unmöglich hier versteckt sein?"

 

"Piratenfilm?", Anthony schaute sie skeptisch an, "Da sich meine Familie auf die Landverpachtung und die Landwirtschaft konzentriert, haben wir daher keine Probleme mit Piraterie. Doch ich weiß von Freunden, die Handel mit fernen Ländern in Asien betreiben, dass sie durchaus um ihre Waren bangen, wenn ihre Schiffe unterwegs sind."

  

Elaine rollte die Augen: "So kann man es natürlich auch formulieren! Also, wie groß muss ich mir das Vermögen nun vorstellen. Ich meine körperlich, nicht vom Wert her. Jeder, der schon mal ein Sparschwein geschlachtet hat, weiß, wie viel da hineingeht, ohne dass man es ihm vorher angesehen hat."

 

"Sparschwein schlachten? Elaine, Sie verwenden aber auch seltsame Formulierungen. Doch ich kann mir vorstellen, was Sie meinen. Wir haben uns eher auf Rinder spezialisiert." Nach einer kurzen Pause ergänzte er: "Um Ihre Frage zu beantworten: Ich denke, wir müssen nach etwas suchen, das in etwa den Umfang einer großen Puddingform hat."

  

Puddingform? Elaine atmete tief aus. Das war zweifellos wieder eine dieser seltsamen Unterhaltungen, in der sie aneinander vorbei redeten, ohne dass es irgendeinen Nutzen brachte. "Schon gut, Anthony," sagte Sie daher nur, "Wo können wir noch suchen?"

 

"Lassen Sie uns von da drüben einen Blick auf den Platz werfen, vielleicht bringt uns das auf neue Ideen." Er drehte sich herum und Elaine wollte ihm folgen. Dabei stieß sie  mit dem Knie an die Ecke der Kommode.

  

"Autsch", fluchte Elaine und bemerkte, wie aus den kleinen Wunden, die die Brombeerranken bei ihrem Sturz gerissen hatten, wieder Blutstropfen austraten und zu Boden fielen, noch bevor sie sie mit den Fingern auffangen konnte.

 

"Haben Sie sich weh getan?" fragte Anthony, der sich besorgt zu ihrem Knie hinunter gebeugt hatte.

 

"Nicht schlimm!", meinte Elaine, "doch jetzt habe ich ihren Fußboden vollgetropft."

 

Elaine durchzuckte die jähe Erkenntnis. Sie richtete sich blitzartig auf und stieß dabei mit Anthony zusammen, der wohl den gleichen Gedanken gehabt hatte. Er fasste sie an den Oberarmen, um den Stoß zu dämpfen.

  

"Der Fußboden!", riefen dann beide gleichzeitig aus und strahlten sich einige Sekunden lang an, bevor Anthony verlegen seine Arme sinken ließ. Elaine sah ihn fragend an. Vermutlich gehörte es sich nach seiner Auffassung auch nicht, Frauen durch eine Berührung der Oberarme am Stürzen zu hindern. Er hatte schon eine sehr altertümliche Vorstellung von Anstand. Die Konsequenz, mit der er sieverfolgte, beeindruckte sie jedoch.

  

Noch immer schaute er sie gedankenverloren an, dann schüttelte er unmerklich den Kopf, wie um einen lästigen Gedanken zu vertreiben. "Untersuchen wir den Fußboden.", sagte er schließlich, kniete sich neben die Kommode und begann die Dielen abzuklopfen.

 

 Elaine sah ihm einige Sekunden lang zu und unterdrückte den Impuls, mit der Hand durch seine dunklen Haare zu fahren. Dann leistete sie ihm Gesellschaft. Eine Weile lang fanden Sie nichts. Dann endlich entdeckten sie eine Diele, unter der offensichtlich ein Hohlraum war. Mit einiger Mühe hebelten das Holz nach oben. Die Aushöhlung, die sich darunter verbarg war denkbar klein. Darin lag lediglich ein weiteres versiegeltes Blatt.

 

Anthony nahm es heraus, brach das Siegel und las laut vor:

  

"Now look out for a very old spice, 

In the Garden you could find it not twice!

 

It´s not used in a common custard, 

Because it is an unusual type of mustard.

 

In society with one its family it grows, 

Surely the man with the lifestock knows.

 

Beneath its roots it is buried my wealth, 

For my relatives who know about health.

 

Who respect the true value of nature, 

Because gambling and gaming is not very mature.

 

Now I bow my tired head for you and forever. 

Thank You, Dear Reader."

 

Fast ironisch fügte er hinzu: "Ich hätte es wissen müssen, dass sie noch ein Hindernis einbaut."

 

"Ich schätze, das Vermögen haben Sie sich nach all der Aufregung dann wirklich verdient.", stimmte Elaine zu und nahm ihm neugierig das Papier aus der Hand.

  

Er hob an, um etwas zu sagen, doch ein genervter Blick von ihr, ließ ihn verstummen. Abwehrend hob er die Hände: "Ist ja schon gut. Ich sage nichts über ihre Erziehung. Kein Wort. Nichts. Keine Kritik. Nein."

 

Sie grinste ihn versöhnlich an und konzentrierte sich auf den Text. "Hm. Ein Gewürz bzw. etwas, was als Gewürz verwendet wird. Wahrscheinlich ein Kraut.", überlegte sie laut, "und eines, was nur an einer Stelle hier wächst. Auch der Reim ist wieder sehr speziell und vermutlich ein Hinweis."

 

"Custard?", fragte Anthony, "Was gehört denn nicht in einen Pudding."

  

"Dazu muss man nicht sonderlich phantasiebegabt sein. Da fallen mir einige Dinge ein, die nicht in eine Pudding gehören! Allem voran 'Garlic Mustard', Knoblauchrauke. Das ist ein Kraut, was zu den Kreuzblütlern gehört. Hier sagt man dazu 'mustards'."

 

"Das könnte sein. Haben Sie so etwas in diesem Garten gesehen?"

 

"Das kann ich auf Anhieb nicht sagen, vermutlich schon. Das Kraut ist recht anspruchslos. Doch es gibt einen weiteren Tipp: Nämlich, dass es gemeinsam mit einer anderen Pflanze aus seiner Familie da wächst. Eine Pflanze, die ein Mann mit einer 'Herde' kennt?"

 

"Shepard´s purse!", ergänzte Anthony sichtlich stolz, dass auch er etwas dazu beitragen konnte, "Hirtentäschel, gehört das auch zu den Kreuzblütlern?"

 

"Ja, das ist gut. Kurz hatte ich an Scharfgarbe, Yarrow, gedacht – weil es sich ganz gut auf 'grow' und 'know' reimt. Doch das ist ein Korbblütler." Elaine nickte begeistert: "Ihre Großmutter wollte damit tatsächlich die Verwandten belohnen, die sich halbwegs mit Pflanzen beschäftigen. Spielerei und Müßiggang hingegen fand sie wohl eher verabscheuungswürdig."

 

"Lady Elizabeth hatte schon immer ihren sehr eigenen Kopf und eigene Vorstellungen davon, wie etwas passieren sollte.", bestätigte Anthony, "Lassen Sie uns also im Garten nach den beiden Kräutern suchen."

 

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg in den Garten. Anthony hatte sich eines der Pflanzenbücher unter den Arm geklemmt. Im Haus war es jetzt bereits ziemlich dunkel. Elektrisches Licht schien es ebenfalls nicht zu geben, jedenfalls hatte sie keinen Lichtschalter entdeckt. Elaine war froh, als sie in die warmen Strahlen der Abendsonne traten, die den Garten in ein wunderbar orange-gelbes Licht tauchten.

  

"Beide Pflanzen sind höchstens zwanzig Zentimeter hoch und blühen in kleinen weißen Kreuzen. Das Hirtentäschel ist noch kleiner und filigraner als die Rauke. Beide Pflanzen habe sicherlich auch schon Samen, das sind dann so kleine Schoten.", sage sie und zeigte auf die rechte Seite des Gartens, "Sie suchen dort, ich übernehme den linken Teil. Sie haben ja das Buch. Schauen Sie ruhig noch mal rein."

  

Motiviert schritt sie durch das hohe Gras davon und begann in den etwas schattigeren Ecken des Gartens nach den Kräutern zu suchen. Dabei hoffte sie inständig darauf, dass sie die beiden Pflanzen am Ende nicht ausgerechnet unter dicken Brombeerranken entdecken würde.

 

Die Stille des Gartens und die Wildheit der Pflanzen wirkte beruhigend und bereits nach einer Weile, arbeitete sie sich versonnen durch das Gestrüpp immer auf der Suche nach Pflanzen mit kleinen weißen Blüten. Sie wandte sich der nächsten Ecke des Gartens zu und erschrak heftig, als plötzlich Anthony hinter ihr stand. Sie hatte ihn nicht kommen gehört und er hatte sie offenbar schweigend beobachtet.

  

"Stehen Sie schon lange hier?", fragte sie etwas verärgert und versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen.

 

"Ähm nein. Ich wollte Ihnen nur kurz sagen, dass ich denke, im rechten Teil des Gartens sind die Pflanzen nicht zu finden. Ich habe überall geschaut und beide kann ich ja wohl kaum übersehen haben." Dann schwieg er wieder und schaute sie nur an.

  

"Gut.", meinte Elaine, um das Schweigen zu unterbrechen, "dann können Sie mir hier helfen. Der Teil ist deutlich größer und wilder als die linke Seite."

 

Er rührte sich nicht. Auffordernd schaute sie ihn an. Schließlich legte er den Kopf schief und ohne sie aus den Augen zu lassen, sagte er dann: "Warum helfen Sie mir? Sie müssen das nicht tun. Sie sind schon den ganzen Nachmittag hier. Sie haben doch sicherlich andere Dinge zu tun."

 

Elaine zog fragend ihre Augenbrauen hoch.

  

"Nun, wie zum Beispiel durch Heidegestrüpp klettern.", ergänzte er in einem Versuch von Humor.

 

Jetzt war Elaine ratlos. Sie zuckte mit den Schultern: "Keine Ahnung. Es ist interessant, spannend. Eine Schatzsuche eben. Dafür bezahlen andere Leute viel Geld." Sie zwinkerte ihm zu.

 

"Außerdem mag ich Sie … irgendwie. Auch wenn Sie seltsam sind … manchmal."

 

Er trat einen Schritt näher an sie heran und sie konnte die Sonne in seinen Haaren riechen. Ehe sie es verhindern konnte, hatte sie ihre Hand erhoben und strich ihm damit ganz langsam durch seine wilden Strähnen. Seine Augen wurden, wenn möglich, grüner und ohne jegliche Vorwarnung zog er sie an sich heran und küsste sie.

  

Als sie seine Lippen spürte, versank Elaine buchstäblich in einem Strudel aus Gefühlen. Er schmeckt gut, stellte sie atemlos fest. Nach Mann, nach Wein, etwas salzig und auch nach diesem Haus. Sie öffnete ihre Lippen ein wenig und Anthony umschlang leise seufzend ihren Oberkörper mit seinen Armen. Eine Weile standen sie so inmitten der warmen Wildheit des Gartens nur beobachtet von einigen Vögeln in den Büschen und überließen sich dem Spiel ihre Lippen und Hände.

 

Dann löste sich Elaine behutsam aus seiner Umarmung. "Wir sollten das nicht tun."

 

"Ich weiß.", bestätigte er leise und fügte resigniert hinzu: "Suchen wir weiter."

 

Als er sich noch immer nicht rührte, ging Elaine langsam vor. Anthony folgte ihr schweigend.

 

Schon bald wurden sie fündig. Unweit eines alten, nun stillgelegten, Brunnens standen prächtige Exemplare beide Pflanzen zusammen.

 

"Jetzt brauchen wir wirklich einen Spaten.", meinte Anthony und Elaine nickte zustimmend. Er machte sich auf den Weg ins Haus, um das Gartengerät zu holen.

  

Einträchtig begannen Sie danach Pflanzen und Erde beiseite zu räumen, bis sie auf die buchstäbliche Truhe stießen. Elaine konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, das war ja doch wie in einem Piratenfilm!

 

Sie bargen die Kiste aus dem Boden, bürsteten die Erdreste herunter und öffneten den Deckel. Wie Anthony angekündigt hatte, war die Truhe mit verschiedenen Münzen, Geldbündeln und Schmuck gefüllt. Obenauf lag ein Buch über heimische Heilkräuter. Offenbar das Lieblingsbuch von Lady Elizabeth, denn es war gänzlich zerlesen.

  

Erleichtert ließ sich Anthony auf den Boden inmitten eines stattlichen Bestands an Brennnesseln sinken. Er schien es nicht zu bemerken. "Elaine, Sie haben meine Existenz gerettet. Meine Familie, unser Anwesen und", er machte eine kurze Pause, "auch meine Verlobung."

 

Sie nickte. Dann strich sie ihm über die Wange: "Keine Armee dann?"

  

Er zuckte bei ihrer Berührung kurz zusammen, nahm ihre Hand dann aber in seine beiden Hände. "Nein, keine Armee."

 

Elaine riss sich zusammen und stand auf. Sie deutete auf die untergehende Sonne: "Ich fürchte, ich muss nach Hause. Meine Freundin wird sich schon mächtig Sorgen machen. So lange bin ich normalerweise nicht alleine weg und ich hatte nur einen kurzen Spaziergang angekündigt."

 

Er fing ihren Blick ein und fragte dann: "Kommen Sie mal wieder vorbei? Einfach so, weil Sie denken, dass das Haus unbewohnt und der Garten verfallen ist?"

  

Elaine lächelte ihn an und löste ihre Hand aus seinen Händen: "Vielleicht. Vielleicht aber ist es besser so, wenn wir den Nachmittag als wunderbares, gemeinsames Erlebnis in Erinnerung behalten. Sie haben ihr Leben und ich meines. Glauben Sie mir, die passen nicht zusammen."

 

Anthony nickte: "Vielleicht haben Sie Recht. Es war wirklich schön und überraschend. Dennoch würde ich mich gern bei Ihnen revanchieren. Möchten Sie einen Teil des Vermögens? Vielleicht ein Schmuckstück?" Er deutete auf die Truhe. "Nur zu, suchen Sie sich etwas aus."

 

Elaine zögerte. Keinesfalls wollte sie "bezahlt" werden. Andererseits hatte sie das Gefühl, dass er ihr gern etwas mitgeben wollte.

 

"Was sind ihre Lieblingssteine?" fragte er, offenbar, um ihr die Entscheidung abzunehmen.

 

"Granate."

 

 Er suchte einige Sekunden lang in der Truhe und zog schließlich eine silberne Kette mit einem fast haselnussgroßen, liebevoll eingefassten Granaten hervor. Dann suchte er weiter und gab schließlich auf. "Nehmen Sie die Kette, bitte. Eigentlich gehören noch ein Paar Ohrringe dazu, doch ich kann sie jetzt nicht finden. Wenn Sie morgen wiederkommen wollen, dann kann ich Sie Ihnen sicherlich übergeben."

 

"Anthony. Ich möchte keinen Lohn für diesen schönen Nachmittag. Die Kette nehme ich gern – als Erinnerung an Sie. Doch ich glaube nicht, dass ich morgen noch einmal hierher komme. In drei Tagen reisen wir ohnehin weiter." Sie nahm die Kette vorsichtig aus seinen Händen, bemüht, ihn dabei nicht berühren und legte sie sich um den Hals.

  

Er lächelte sie an: "Sie steht ihnen gut, Elaine. Falls Sie es sich noch überlegen. Die Ohrringe werden für Sie bereit liegen. Jederzeit! … und ich werde einen Gärtner beauftragen, den Garten in Ordnung zu bringen. Soll ich Sie noch ein Stück begleiten?"

 

"Nein. Da ist nicht nötig. Ich finde den Weg allein.", Elaine deutete auf die Hecke am anderen Ende des Gartens.

 

Anthony nickte, beugte sich vor und küsste sie sanft auf ihre Wange. Er verharrte einen Moment an ihren Haaren, drückte noch einmal ihre Hände und ging schließlich zum Haus zurück.

  

Elaine sah ihm kurz etwas wehmütig nach, dann lief sie zur Lücke in der Hecke und kletterte vorsichtig hindurch. Einige Sekunden lang hatte sie das Gefühl, dass die Hecke sie regelrecht verschluckte und auf der anderen Seite wieder ausspuckte, so dicht war das Gestrüpp.

  

* * *

 

Elaine blinzelte verwundert in das Licht der Nachmittagssonne. Sie schaute auf ihre Uhr. Seit sie den Pfad verlasse hatte und durch die Hecke geklettert war, waren offenbar nur wenige Minuten vergangen.

  

Sie schüttelte den Kopf, um sich zu konzentrieren. Sie hatte doch im Salon auf die Uhr geschaut. Es war acht Uhr gewesen und zum Schluss war die Sonne schon fast untergegangen. Das war nicht möglich! Hatte sie sich das alles nur eingebildet, während sie auf das Haus gestarrt hatte?

 

Gedankenverloren verscheuchte Elaine eine aufdringliche Fliege. Dabei berührte sie den Anhänger der Kette. Die Kette! Sie hatte es nicht geträumt. Schnell griff sie in ihre Hosentasche. Auch das Tuch war noch da, was er ihr im Garten gereicht hatte, um ihre Verletzungen trocken zu tupfen. Sie strich mit den Daumen darüber. Es waren die Buchstaben A, J, E und T eingestickt, daneben fand sich ein kleines Wappen.

  

Elaine schluckte und unterdrückte den Impuls sofort wieder durch die Hecke zu kriechen und zum Haus zu laufen. Statt dessen versuchte sie über die Hecke zu spähen. Das Haus schien unverändert, obgleich es jetzt wieder etwas verfallener wirkte als noch vorhin, als sie im Garten gestanden hatte.

  

Der Zeitverlust war logisch nicht zu erklären. Doch sie fühlte sich benommen und ihre Zunge sich pelzig an. Sie stellte fest, wie durstig sie war. Warum hatte sie sich eigentlich kein Wasser mitgenommen?

 

 Elaine beschloss daher, sich auf den Heimweg zu machen. Schließlich wollten sie und Stephanie, ihre Freundin, heute Abend in den gemütlichen Pub gegenüber von ihrer Ferienwohnung gehen, angeblich der älteste Pub im Ort.

 

 Den gesamten Rückweg machte sie sich Gedanken über ihr Erlebnis. Sie konnte sich den Nachmittag nicht erklären und während sie versuchte, eine Lösung für den Zeitsprung zu finden, beschloss sie, morgen doch noch einmal durch die Hecke zu kriechen. Dieses Mal jedoch würde sie Fotoapparat und Wasserflasche mitnehmen und natürlich Hosen tragen. Bei dem Gedanken an Anthony, wie er skeptisch ihre Beine betrachtet hatte, musste sie leise lachen. Auf jeden Fall wollte sie das Centaurium scilloides, das Tausendgüldenkraut noch fotografieren. So einen seltenen Fund lässt man ja auch eigentlich nicht undokumentiert.

  

* * *

 

"Elaine! Elaine, nun komm schon. Ich sterbe vor Hunger." Stephanie, ihre Freundin, stand ungeduldig in der Tür und wartete auf Elaine, die noch schnell ihren Fotoapparat einpackte.

  

"Ich komme schon. Dieses Mal trage ich den Fotoapparat mit mir herum, wer weiß, was ich mir sonst wieder für eine Entdeckung entgehen lassen muss."

 

Elaine hatte Stephanie ausführlich von ihrem Nachmittagserlebnis berichtet. Diese hatte es kaum glauben wollen und mehrmals nur ungläubig staunend die Augen aufgerissen. Doch die Kette und auch das Taschentuch waren Beweise, die man nicht so einfach ignorieren konnte. Dennoch waren sich beide einige, dass es schon ein sehr seltsames Erlebnis gewesen sein musste.

  

Für den Zeitverlust hatten sie mehrere Möglichkeiten diskutiert. Keine davon war wirklich plausibel und so hatte Elaine vorgeschlagen, die Diskussion um absurde Lösungen, etwas entspannter bei einem Glas Wein im Pub fortzusetzen.

 

Einträchtig stiegen sie die Treppe hinab, um zum Pub hinüber zu gehen. Dieser war schon gut gefüllt und auf den Biertischen davor saßen Gruppen von Touristen, Strandbesuchern und Einheimischen in den letzten Strahlen der Sommersonne bei Bier, Limonade oder Wein. Elaine und Stephanie gingen zur Bar, um vor dem Essen noch einen Aperitif zu nehmen. Eine Gruppe von Männern aus der Region saß gegenüber und prostete ihnen unternehmungslustig zu.

 

Elaine beschloss, die Männer zu ignorieren, vertiefte sich in die Getränkekarte und bestellte schließlich zwei Wodka-Martini. Stephanie war kurz zur Toilette verschwunden. Elaine rührte gedankenverloren in ihrem Aperitif und bemerkte so nicht, wie sich einer der Männer aus der Gruppe gelöst hatte und nun auf sie zukam.

  

Sie hätte fast ihr Getränk umgestoßen, als eine plötzlich eine leise Stimme neben ihr flüsterte: "Sie haben da eine sehr schöne Kette!"

 Erschrocken drehte sich Elaine herum und schaute in unglaublich grüne Augen, die sie freundlich musterten. Sprachlos starrte sie auf einen groß gewachsenen, schlanken Mann mit dunklen Haaren, der jetzt auf die Kette deutete: "Es ist komisch und ich weiß, das mag jetzt wie eine einfallslose Anmache klingen, doch wir haben ein Paar Ohrringe zu Hause liegen, deren Einfassung der Ihrer Kette beeindruckend ähnelt."

  

Elaine musterte ihn mit großen Augen: "Ähm ja. Die Kette war ein Geschenk. Ein ganz besonderes Geschenk.", erklärte sie wenig geistreich.

 

Er lächelte Sie an und als er seine Lippen auf eine ganz besondere Art und Weise verzog, hatte sie einen Moment lang das Gefühl, Anthony würde vor ihr stehen. Sie schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Die Begegnung vom Nachmittag hatte sie doch mehr beeindruckt, als ihr lieb war.

 

Er schien ihre Verwirrung nicht zu bemerken und sprach leise weiter: "Wenn Sie mögen, zeige ich Ihnen die Ohrringe. Sie würden hervorragend zu ihrer Kette passen. Eigentlich perfekt."

  

Er machte eine kurze Pause, schaute gedankenverloren auf den Anhänger ihrer Kette und fuhr dann fort: "Es gibt zu den Ohrringen eine recht traurig-romantische Geschichte. Möchten Sie diese hören?"

  

Elaine schaute ihn nachdenklich an und nickte schließlich. Der Mann gefiel ihr und seine Augen besaßen dasselbe intensive Grün, wie die von Anthony, dachte sie etwas wehmütig.

  

Er schien sich ehrlich über ihr Interesse zu freuen und setzte seine Erzählung leise fort: "Ursprünglich gab es wohl zu den Ohrringen noch eine Kette, ein Set sozusagen und schon lange im Besitz unserer Familie. Vielleicht war es so eine, wie die Ihre. Diese Kette jedenfalls hat mein Vorfahr vor vielen, vielen Jahren einer Frau geschenkt, die ihm an nur einem Nachmittag sein Herz gestohlen hat. Leider konnte er in der Eile die Ohrringe nicht finden und so hat er sie später heraus gesucht und bestimmt, dass sie zusammen mit einem alten Buch über Heilpflanzen immer griffbereit am Eingang seines Sommerhauses liegen sollten, falls die Frau zurück kommt und sie doch noch abholt. Es heißt, an manchen Tagen, vor allem im Sommer, schien er regelrecht auf sie zu warten."

  

Er seufzte: "Ja, sie kam wohl nicht. Doch die Anweisung wurde streng befolgt und so lagen die Ohrringe und das Buch jahrelang im Eingang dieses Hauses und harrten einer Dame, die nicht zurück kam. Sie war anscheinend auch nicht von hier, sondern nur auf der Durchreise. Traurig oder?"

  

Elaine starrte ihn sprachlos an. Wollte er sie zum Narren halten? Doch er konnte unmöglich all diese Details wissen. Vielleicht war es nur ein absurder Zufall? Er schaute sie besorgt an: "Ist Ihnen nicht gut? Soll ich Ihnen noch etwas zu trinken bestellen?"

 

Sie riss sich zusammen. "Die Ohrringe liege noch 'heute' in diesem Haus?", fragte sie stattdessen, ohne auf seine Frage einzugehen und zögerte bei dem Wort "heute" ein wenig.

  

"Nein. Das Haus ist nicht mehr bewohnbar. Nach der Großen Depression um 1930 konnte meine Familie den Unterhalt für das Haus nicht mehr aufbringen. Vielleicht kennen Sie es ja, wenn sie hier schon ein wenig herum gewandert sind. Es steht in einem recht verwilderten Garten, direkt an der Klippe dort hinten." er deutete in Richtung des Küstenpfades und fuhr fort, "Die Ohrringe liegen jetzt bei uns in Barnstable. Es ist ja auch nicht wahrscheinlich, dass die Dame die Schmuckstücke noch jemals abholen wird."

  

Er lächelte sie freundlich an. Elaine schwirrte der Kopf. Vorfahr? Große Depression? Barnstable?

 

"Aber er hat doch sicherlich eine Frau gehabt, oder?", fragte sie nur.

 

"Ja, Lady Bradshaw. Es war wohl eine recht zufriedenstellende Ehe, für beide Seiten. Doch es heißt, geliebt hat er immer nur die Frau, für die die Ohrringe bestimmt waren."

  

Das konnte es nicht geben! Das war einfach nicht möglich! Sie hatte doch erst "heute" Nachmittag mit Anthony gesprochen. "Heute". Elaine trank ihren Aperitif mit einem großen Schluck aus und bestellte sich sofort noch einen.

 

Er schmunzelte sie an: "Na, aber so schlimm ist die Geschichte nun auch wieder nicht. Die Ohrringe würde ich ihnen allerdings gern einmal zeigen. Wenn sie gut zu ihrer Kette passen, dann schenke ich Sie Ihnen vielleicht." Er zwinkerte ihr zu und seine grünen Augen blitzten noch immer belustigt: "Ich bin übrigens Jonathan."

  

"Elaine.", sagte sie und ergänzte dann, "und ihr Vorfahr hieß Anthony Jonathan Edward Earl of Tendesbury?" Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

 

Überrascht zog Jonathan seine Augenbrauen hoch: "Woher kennen Sie seinen Namen, noch dazu vollständig? Haben Sie sich mit unserer Familie beschäftigt?"

  

Elaine seufzte und schüttelte kaum merklich den Kopf. "Nein. Doch das ist eine wirklich lange und sehr bizarre Geschichte. Glauben Sie mir."

 

"Ich habe Zeit und ich bin ein guter Zuhörer." Jonathan musterte sie kurz nachdenklich. Elaine tippte ihm auf die Brust: "Sie werden mehr als nur Zeit brauchen, Jonathan. Ich werde Ihnen von meiner Begegnung 'h e u t e' Nachmittag erzählen."

  

"Mehr als nur Zeit? Sie meinen, ich bestelle mir besser auch einen von diesen Aperitifs?" er grinste sie verschwörerisch an und Elaine versank einen kurzen Moment in seinen grünen Augen.

 

"Ja, tun Sie das. Am Besten gleich zwei.", sie grinste zurück.

 

Dann legte sie das Taschentuch auf das Holz des Tresens, das Anthony ihr gegeben hatte. Die Blutstropfen hatten sich in kleine braune Pünktchen verwandelt, die Stickerei hob sich deutlich vom Rest des Stoffes ab.

  

Jonathan starrte ratlos auf den Stoff: "Wo haben Sie das her?"

  

Sie grinste noch immer und hatte dabei das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen: "Ich sagte doch, eine lange und bizarre Geschichte."

 

Jonathan kam so nah an sie heran, dass sie die Sonne in seinen Haaren riechen konnte, und flüsterte: "Dann erzählen Sie. Jetzt bin ich aber wirklich gespannt."